Dialog der Welten
Von der exemplarischen Erschließung der Ethographica in der Friedenstein Stiftung Gotha bis zur kollaborativen Provenienzforschung – Objekte aus Indonesien als Wissensspeicher
von Dr. Kerstin Volker-Saad
Der Beitrag zum Tag der Provenienzforschung beleuchtet die Geschichte der ethnographischen Sammlungen der Friedenstein Stiftung Gotha, insbesondere Artefakte aus Indonesien. Durch kollaborative Provenienzforschung wird die Herkunft dieser Objekte untersucht, um ihre Biografien zu rekonstruieren. Dabei geht es um den Austausch zwischen lokalen Kulturbehörden und Wissenschaftlern, um verlorene Kontextinformationen zu gewinnen und ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln.
Die Artefakte, Waffen, Ritual- und Gebrauchsgegenstände aus dem indonesischen Archipel bilden mit rund 250 noch erhaltenen Objekten einen der größten außereuropäischen Bestände der Stiftung Friedenstein. Sie sind frühe Zeugnisse einer intensiven und vielfältigen Beziehung zwischen den Gothaer Herzögen und dem fernöstlichen Kulturraum. Wie vielfältig diese Interaktionen waren, zeigen die Recherchen zur Sammlungsgeschichte, die im Rahmen des Pilot- und Modellprojektes „Exemplarische Erschließung der Ethnographica in der Sammlung der Stiftung Schloss Friedenstein“ im Digitalisierungsprojekt GothaTransdigital von 2020 bis 2022 aufgearbeitet wurden. Seit 2022 fördert die Ernst von Siemens Kunststiftung das Folgeprojekt „Dialog der Welten“ – Die Repräsentation des Fremden – Perspektiven auf die Gothaer Sammlungen“, in dem mittels kollaborativer Provenienzforschung die Objektgeschichte rekonstruiert werden soll, um einen faktenreichen Bestandskatalog zu erarbeiten.
Schon Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha-Altenburg (reg. 1640-1673) stand in Kontakt mit Caspar Schmalkalden (1616-1673?), der vor 1652 den südostasiatischen Archipel bereiste und Sammlungen anlegte, die heute nicht mehr auffindbar sind. Mit seinen Reisebeschreibungen gibt er Einblicke, die mehr von seiner Wahrnehmung erzählen als den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen, wie wir heute wissen. Aber seine Weltläufigkeit war Grund genug, ihn als ersten Hofarchivar einzustellen, sein Weitblick und seine Erfahrung waren sozusagen das Einstellungskriterium.
Zwischen 1827 und 1884 gelangten Artefakte aus dem indonesischen Archipel von mindestens zehn Sammlern wie Carl Heinrich Wilhelm Anthing (1766-1823), bis 1819 Generalgouverneur von Batavia, dem javanischen Maler und Prinzen Raden Saleh Syarif Bustaman (1811-1880), dem Königlich Holländischen Hauptmann Leopold Ullmann (1813-1877), dem Justizrat und Dr. jur. C. P. K. Win(c)kel (1842-1884) oder dem Schriftsteller Friedrich Gerstäcker (1816-1862) an die Gothaer Herzöge.
Geschenk von Prinz Raden Saleh an Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, 1857.
Geschenk von Prinz Raden Saleh an Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, 1857. Ein prachtvolles Sattelkissen aus rotem Filz mit aufwändiger Stickerei mit farbigen Seidenfäden und Goldlahngespinste in Plattstich- sowie Knötchenstichtechnik ausgeführt. Dargestellt sind mittig zwei Phönixe, zwei blaue und zwei goldene Löwen, Schmetterlinge, Fledermäuse, Blüten, eine Feuerperle, ein Flaschenkürbis sowie Fächer und Glücksymbole. Vier Knöpfe aus Zinn sind mit gelbem Filz unterlegt und halten die vier Lederbänder auf der Rückseite zur Montierung auf der Satteldecke (Eth39T). Die Rückseite ist aus naturfarbenem Leinen gearbeitet. Ein Stempel in Mandarin gibt den Hinweis auf die Provinz Fujian in China. Folgende Teile des Reitzeugs gehören zusammen: Eth263, Eth688, Eth689, Eth690, Eth691, Eth692, Eth 693, Eth694, Eth695, Eth311, Eth27Ta, Eth27Tb, Eth39T, Eth39-1T.
Jedes übergebene Objekt ist ein Wissensspeicher und trägt Geschichte(n) in sich, es steht für Neugier, wissenschaftliche Erkenntnisziele, Risikobereitschaft, diplomatisches Geschick, kulturellen Austausch, Kenntnis – aber auch Unkenntnis – der lokalen Gegebenheiten in einer fremden, tropischen Umgebung und für eine mögliche gewaltsame Aneignung während der niederländischen Kolonialzeit. Sie erzählen von den imperialen Inbesitznahmen der Vereinigten Ostindischen Companie (VOC), dem Königreich Holland und später dem Königreich der Vereinigten Niederlande sowie von den Verflechtungen einzelner wissenschaftlicher oder militärischer Akteure, die wie Anthing ihre Wurzeln in Gotha hatten oder später wie C.P.K Win(c)kel am Gothaer Hof wirkten.
Die südostasiatischen Objekte wurden im Chinesischen Kabinett oder in Räumen des Schlosses präsentiert. Die außereuropäischen Sammlungen verblieben auch nach der Verlegung der Residenz nach Coburg ab 1826 auf Schloss Friedenstein in Gotha. Möglicherweise wurden einzelne Teile ab 1890 von Herzog Alfred dem Wachsenburg-Komitee als Leihgabe überlassen und auf der Burg bei Arnstadt in thematischen Inszenierungen gezeigt.
Mit Beginn des Pilotprojekts 2020 konnten im Rahmen der Revision die verschiedenen Verluste dokumentiert werden, wobei besonders auffällt, dass eine große Anzahl der im alten Inventar des Kunstkabinetts von 1858, Kapitel II, 1-11 unter der Rubrik 6 „Waffen und Geräthe“ aufgeführten Waffentypen unvollständig ist. Leider befinden sich nur noch die Scheiden der Kris, Klevangs und Mandaus im Depot. Die konkrete Verlustgeschichte konnte bisher nicht rekonstruiert werden, vielleicht wurden die Klingen, Prunk- und Haumesser in den Wirren der Nachkriegszeit nach St. Petersburg und Moskau abtransportiert, wie sowjetische – inzwischen übersetzte – Transportlisten für Kunstgüter nach 1945 vermuten lassen. Vielleicht waren sie aber auch Teil der allgemeinen „Entwaffnung“, bei der nach Kriegsende selbst Brotmesser konfisziert wurden. Hier bestehen bedauerliche Dokumentationslücken und Bedarf an Provenienzforschung.
Mit den Ethnographica und Ostasiatika zeigt sich also eine Geschichte des Erwerbs, Aufsammelns und Verlustes, von vielen Besitzerwechseln, von Objekten in Bewegung („travelling objects“), mit einigen inzwischen wissenschaftlich bearbeiteten Beziehungsgeflechten und vielen verlorenen Objektbiografien. Friedensteins heutige, zukunftsorientierte Sammlungserschließung außereuropäischer Bestände folgt daher dem Prinzip einer dualen Wissensproduktion und eines wechselseitigen Wissenstransfers mit den Gesellschaften, in deren kulturellem Umfeld diese Objekte entstanden sind – zeitgemäß als „kollaborative Provenienzforschung“ bezeichnet. Basierend auf dem in der Ethnologie angewandten erweiterten Konzept einer personen-, kontext- oder objektbezogenen Herkunftsforschung zur Rekonstruktion einer außereuropäischen Objektbiografie, das bereits vor dem 2019 veröffentlichten „Ersten Eckpunktepapier von Bund und Ländern“ zum „Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ existierte, wird dieses durch die dort postulierte Drei-Wege-Strategie „Zugang – Transparenz – Kooperation“ als zeitgemäßer Erschließungsansatz für alle Objektbestände erweitert.
Wie wird dies in der Friedenstein Stiftung umgesetzt? Analog zu den Sammlungsbeständen wird mit den Verantwortlichen in den jeweiligen Kulturbehörden vor Ort, im Falle Indonesiens zunächst über die Botschaft in Berlin, Kontakt aufgenommen und der Wunsch nach einem Austausch mit einem Museum geäußert. Die hiesigen, inzwischen weitgehend digital erschlossenen Sammlungsbestände werden im jeweiligen Land mit dem Ziel präsentiert, gemeinsam Objektbiografien und Kontexte zu rekonstruieren, da die Artefakte eher als Einzelobjekte oder Fragmente in den Depots verwahrt werden und die lokalen Kontexte der Herstellungsorte im Gothaer Inventar schmerzlich fehlen. In solchen Situationen, in denen ein gegenseitiger Kooperationswunsch besteht, wird eine gemeinsame Absichtserklärung zu Projekten, Initiativen, kuratorischem oder restauratorischem Austausch etc. erarbeitet.
Die Kontaktaufnahme mit den indonesischen Museen erfolgte hinsichtlich der außereuropäischen Objekte erst nach einer längeren Anbahnungsphase und wurde mit einer Reise nach Jakarta im November 2024 und einer Erkundung der Insel Java realisiert. Im Gepäck waren Fotografien verschiedener Objekte javanesischer Provenienz, deren regionale Verortung durch einen Namenszusatz wie „Kris aus Solo“ oder „ein flacher hölzerner Kasten mit 122 kleinen Modellen der vorzüglichsten Gegenstände, deren sich […] in den Bezirken Buitenzorg und Praenger auf Java bedienen“ von „Gerichtsrath Dr. juris. Winckel in Samarang“, über die jedoch keine weiteren Hintergrundinformationen vorlagen. Zu klären war auch die Frage, warum eine Vielzahl der Objekte ikonographisch eher in China hätten hergestellt werden können, als Herkunftsort aber Batavia oder Surabaya angegeben wurde.
Ein Termin im Nationalmuseum in Jakarta brachte schnell Klarheit über das Kulturgut, das Angestellte der niederländisch-ostindischen Kolonialverwaltung Mitte des 19. Jahrhunderts nach Gotha brachten und Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha schenkten. Im Laufe des Gesprächs stellte sich heraus, dass der „hölzerne Kasten“ nicht von einheimischen Bildhauern, sondern von holländischen Handwerkern gefertigt worden war, die mit den kleinen Modellen von javanischen Haushaltsgegenständen, Musikinstrumenten, Waffen und Werkzeugen die Anwärter für den Auslandsdienst im Königreich der Vereinigten Niederlande zu Lehrzwecken vorbereiten wollten. In europäischen Museen gibt es einige Exemplare solcher Modellsammlungen, aber in Jakarta und auch in Buitenzorg (heute Bogor), wo sie den Schnitzern gezeigt wurden, waren sie unbekannt und lösten große Bewunderung aus. Über die wissenschaftliche Online-Plattform gotha.digital war es möglich, den öffentlichen Objekteintrag mit Dutzenden von Detailfotos einzusehen. Gemeinsam wurde für einen Großteil der Miniaturen der lokale Name ermittelt und die spezifische Nutzung notiert. Die gemeinsame Diskussion über die Zuordnung der kleinen Objekte und ihrer inzwischen auch in Indonesien nicht mehr alltäglichen Werkzeuge war für alle ein großer Erkenntnisgewinn.
Aus Deutschland kommend, die Debatten um koloniales Erbe und unrechtmäßig entzogenes Kulturgut im Hinterkopf, galt es, den richtigen Ton zu treffen und das Thema offen anzusprechen. Es wurde gefragt, warum man die indonesischen Artefakte derart abwerten wolle, indem man sie auf ihre Rolle als koloniale Objekte reduziere. In erster Linie seien es doch z.B. Ritualdolche (Kris), in denen gelebte gesellschaftliche Werte enthalten sind, die etwas über den Besitzer, den kundigen Schmied, die göttliche Zustimmung etc. aussagen.
Die Reise und die Erkundung der Städte machte deutlich, dass es China Towns gab, in denen sich nach dem Rückzug der chinesischen Herrschaft eine große chinesische Gemeinde niedergelassen und ihre Kulturtechniken bewahrt hatte. Die eingerichteten Museen, insbesondere das in Tangerang (Vorort von Jakarta), waren ein Augenöffner für die von dort nach Gotha gelangten Objekte. Die Inaugenscheinnahme und die Gespräche bestätigten die Hypothesen zur Herkunft „Java“. Die wichtigste Erkenntnis war jedoch, dass die in der Friedenstein Stiftung Gotha aufbewahrten javanischen Objekte ein Alleinstellungsmerkmal besitzen, da sie häufig für den Export hergestellt wurden und nicht in die lokalen Museumssammlungen gelangten. Sie sind daher sowohl für die indonesischen als auch für die europäischen Kustoden wichtige Werke, die nur in einer gemeinsamen wissenschaftlichen Anstrengung und im wechselseitigen Wissenstransfer ihre Geschichte(n) zurückerhalten können.