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Form gewordene Aufklärung

Jean-Antoine Houdons Skulpturen in Gotha

Jean-Antoine Houdon, Diana, 1776, Detail

Seine Werke befinden sich in den bedeutendsten Museen der Welt, wie dem Louvre in Paris, dem Liebighaus in Frankfurt und der Eremitage in St. Petersburg. Die größte Sammlung des Frühwerks von Jean-Antoine Houdon befindet sich jedoch im Herzoglichen Museum in Gotha.

Jean-Antoine Houdon (1741-1828) machte sich Ende des 18. Jahrhunderts in Paris mit seinen Statuen und Porträtbüsten einen Namen und wurde bald zum bedeutendsten Porträtbildhauer Frankreichs. Houdon führte die Ideen und Werte der Aufklärung in die Bildhauerei ein und trieb sie mit künstlerischen Mitteln voran. Seine Werke zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Bild eines Heiligen, einer Göttin oder eines Philosophen vermitteln, ohne dass man die Attribute erkennen muss, die ihnen beigegeben sind. Seine Statuen erzählen auch keine Geschichten oder markieren deren Höhepunkt. Die Inhalte, die sie vermitteln, sind allein in ihrer Haltung und Natürlichkeit zu finden. Damit entspricht er der zeitgenössischen Forderung nach Verständlichkeit durch Einfühlung.

Houdons Porträts waren nicht mehr in erster Linie repräsentativ, sondern tendierten zu einer veristischen, stärker dem Motiv verpflichteten Kunst. Houdon porträtierte vor allem bürgerliche Auftraggeber, französische und amerikanische Aufklärer, aber auch Herrscher wie Katharina II., Ludwig XVI. und Napoleon I. sowie Mitglieder des französischen Hofes. In seinen Porträtbüsten legte Houdon Wert auf einen sprechenden Gesichtsausdruck der Dargestellten, so dass der Betrachter Charakter und Bedeutung der Person weniger durch Wissen als durch einfühlendes Sehen erfassen konnte.

Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg lernte Houdon während seiner Kavalierstour in Paris kennen. Zwischen dem Herzog und dem Künstler entwickelte sich eine enge, fast freundschaftliche Beziehung, der Gotha die größte und faszinierendste Sammlung von Werken des französischen Bildhauers außerhalb Frankreichs verdankt.

Denis Diderot, 1771

Diderot war eine wichtige Stimme im kunsttheoretischen Diskurs und regte Künstler wie Jean-Antoine Houdon und Jean-Baptiste Greuze zur Suche nach modernen Ausdrucksformen an. Er lehnte die vor allem im Barock beliebte Kunstgattung der Allegorie mit ihrer vielfältigen Symbolik ab und forderte, dass ein Bild dem Betrachter keine Rätsel aufgeben dürfe. Der Künstler solle in der Lage sein, dem Betrachter den Inhalt zu vermitteln, ohne dass dieser auf literarisches Hintergrundwissen zurückgreifen müsse. Die Kunstwerke sollten das Gefühl ansprechen, nicht den Verstand.

Der Schriftsteller wird in dieser Büste ohne Kleidung und Perücke als antiker Denker heroisiert, der mit wachem Blick und leicht geöffnetem Mund argumentiert.

Jean Antoine Hudon, Denis Diderot, 1771, Gips

Muskelmann, 1767

Houdons Suche nach Wahrheit, modernen Sinnbildern und Ausdrucksmöglichkeiten wird in einigen seiner Werke besonders deutlich. Schon mit seinen frühen Werken traf Houdon den Geist der Zeit, auch in der Darstellung traditioneller Themen. 1766 erhielt der junge Bildhauer den Auftrag für zwei Statuen: „Johannes der Täufer“ und „Heiliger Bruno“. Um den Körper des Johannes anatomisch korrekt wiederzugeben, schuf Houdon zunächst einen lebensgroßen „Muskelmann“. Dieser galt den Zeitgenossen als die beste anatomische Statue, die bis dahin geschaffen worden war. Sie diente unter anderem als Lehrmittel für anatomische Studien. Die große Bedeutung, die Houdon der anatomisch korrekten Wiedergabe seiner Statuen und Porträts beimaß, führte in der Folgezeit dazu, dass er für Porträts häufig Toten- und Lebendmasken verwendete. Noch 1794 stellt Houdon fest: „… ich kann sagen, dass es wirklich nur zwei Dinge gibt, mit denen ich mich mein ganzes Leben lang beschäftigt habe […]: die Anatomie und das Gießen von Statuen“.

Jean-Antoine Houdon, Muskelmann, 1767, Gips, 184 x 79 x 122 cm
Jean-Antoine Houdon, Muskelmann, 1767, Gips, 184 x 79 x 122 cm
Jean-Antoine Houdon, Heiliger Bruno, 1766/67, Gips

Heiliger Bruno, 1766/67

Die Statue des Heiligen Bruno, die Houdon 1766/67 für die römische Kirche Sante Maria degli Angeli schuf, erregte großes Aufsehen: In ein Gewand gehüllt, das nur wenige, schlichte Falten wirft, die Arme vor der Brust gekreuzt, neigt der Heilige sein kahles Haupt wie in tiefes Nachdenken versunken. Durch den Verzicht auf jegliches erzählerisches Beiwerk und Attribute veranschaulicht der Bildhauer nach Ansicht der Zeitgenossen die Regeln des Eremitenordens: Meditation, Zurückgezogenheit, Demut und Schweigen.

Jean-Antoine Houdon, Heiliger Bruno, Detail, 1766/67, Gips
Jean-Antoine Houdon, Morpheus, 1769, Gips, Höhe: 116 cm, Breite: 156,9 cm, Höhe: 108,5 cm

Morpheus, 1769

Morpheus ist der Gott der Träume in der griechischen Mythologie. Er ist der Sohn von Hypnos, dem Gott des Schlafes. Morpheus kann sich in jede beliebige Gestalt verwandeln und in Träumen erscheinen. Er schickt seine Träume vor allem an Könige und Herrscher. Er überbringt die Botschaften der Götter. Sein Bett ist aus Elfenbein und befindet sich in einer dunklen Höhle. Als Wohnort wird auch die Höhle seines Vaters Hypnos oder der Teil der Unterwelt Erebos genannt.

Die Gothaer Gipsplastik ist der einzige erhaltene Abguss. Eine Ausführung dieser Skulptur in Marmor befindet sich im Louvre in Paris.

Jean-Antoine Houdon, Morpheus, 1769, Detail

Christoph Willibald Gluck, 1775

Im Salon von 1775 stellt Houdon eine Gipsbüste von Gluck aus. Der Bildhauer verfolgte aufmerksam, welche Persönlichkeiten gerade in Mode waren und von denen er Porträts anfertigen und verbreiten konnte. 1775 hatte sich Houdon noch nicht als Porträtist der Intellektuellen und Künstler der Aufklärung etabliert. Zu diesem Zeitpunkt hatte er lediglich Diderot porträtiert und damit im Salon Aufmerksamkeit erregt. Gluck, der in Paris triumphale Erfolge feierte und wichtige musikalische Neuerungen in Frankreich einführte, war für Houdon ein attraktives Modell.
Er schuf eine grandiose Komposition. Er ließ die Büste bis zur Taille reichen und schuf so ein Halbporträt des Komponisten, nur mit den Armstümpfen. Den durch die Größe der Büste hervorgerufenen monumentalen Eindruck verstärkte er durch die Höhe des Sockels und der Sockelplatte. Er kleidete Gluck „à la française“ mit offenem Hemdkragen und zerzaustem Haar, was der traditionellen Porträtdarstellung des Künstlers entspricht. Houdon gab Glucks pockennarbiges Gesicht naturgetreu wieder. Dies traf jedoch nicht den allgemeinen Geschmack und wurde im Salon kritisiert.
Der Kunsthistoriker Willibald Sauerländer schrieb dazu im Jahr 2002: „Radikaler als das Gesicht des Philosophen führt diese Musikerbüste vor Augen, wie Houdons Verismus die gesellschaftlichen und geschmacklichen Konventionen des Ancient Régime sprengt und das Antlitz des freien, natürlichen Menschen offenlegt mit seinem Feuer, seiner Leidenschaft, aber eben auch in seiner Hässlichkeit und seiner Entstellung durch Narben.“
Auffallend ist auch, wie Houdon die Oberflächenstruktur der Jacke gestaltet hat. Die tief in das Material eingeschnittenen Linien, die sich in den Haaren wiederfinden, suggerieren eine leidenschaftliche, fast brutale Bearbeitung des Materials. Zusammen mit den schonungslos wieder-gegebenen Narben vermitteln sie das Bild eines wahrhaft leidenschaftlichen Künstlers, der für seine Kunst bis an die Grenzen des Erträglichen geht.

Jean-Antoine Houdon, Christoph Wilibald Gluck, 1775, Gips, Höhe: 88 cm, Breite: 62,3 cm, Tiefe: 37,5 cm
Jean-Antoine Houdon, Diana, 1776, Gips, Höhe: 210,20 cm, Breite: 88,70 cm, Tiefe: 117,5 cm

Diana, 1776

Houdons berühmte Skulptur der Diana zeigt die Göttin in vollem Lauf, wobei ihr Gewicht nur auf der linken Fußspitze ruht. Das rechte Bein ist gerade vom Boden abgehoben, in der nach vorn gestreckten rechten Hand hält Diana einen Pfeil, in der anderen einen Bogen. Ihr Blick schweift in die Ferne, das lockige Haar ist auf dem Kopf hochgesteckt. Durch ihre elegante Haltung wirkt die Skulptur schwebend, die majestätischen Formen verleihen ihr einen feierlichen, majestätischen Ausdruck. Die Waffen und der Halbmond im Haar weisen sie als Göttin Diana aus.

Die Schönheit ihres Körpers wurde von den Zeitgenossen bewundert. „Die Vollkommenheit ihrer überirdischen Schönheit und die Klarheit der Form“ werden gerühmt. Die Konzentration auf eine gänzlich nackte Frauengestalt war jedoch gewagt. Friedrich Melchior Baron von Grimm, Geheimrat von Sachsen-Gotha-Altenburg, schrieb dazu in einem Brief an den Herzog: „Diana hat alle weiblichen Reize, scheint sich ihrer aber nicht bewusst zu sein und wird immer gehend oder rennend gezeigt, nach vorne in die Ferne blickend […]. Sie sieht immer wie eine Jungfrau aus. […] Ihre Taille ist schmaler und schlanker als die von Juno oder Athena“. Grimm führt antike Gemmen und Münzen sowie Äußerungen Johann Joachim Winckelmanns, des berühmten Kunstschriftstellers, der sich der Antike gewidment hat, als Belege dafür an, dass die Darstellung einer nackten Diana bereits in der Antike bekannt gewesen war. Schließlich kam Grimm zu dem Schluss, dass zwischen ihrer Nacktheit und ihrer Keuschheit kein Widerspruch bestehe. Die Verantwortlichen des Salons entschieden anders: Im Salon des Jahres 1777 durfte nur die Büste der Diana gezeigt werden, nicht aber das originalgroße Gipsmodell – das sich heute im Herzoglichen Museum von Schloss Friedenstein in Gotha befindet.

Voltaire, 1778

Wahrscheinlich saß Voltaire Houdon im April 1778 Modell für ein Porträt. In seinen Correspondance littéraire schrieb Friedrich-Melchior Baron von Grimm im Mai 1778: „Houdon hat nur zwei oder drei Sitzungen gebraucht, um ein Gelingen zu erreichen, das über alle Worte erhaben ist. Unter all den tausend Porträts, die man seit sechzig Jahren von Voltaire geschaffen hat, war dieses das einzige, mit welchem er selbst völlig zufrieden war. Niemals sind diese Züge mit so viel Anmut und Grazie wiedergegeben worden. Es sind alle Formen seines Antlitzes völlig getreu und ohne einen Schatten der Last. Es ist alles Feuer, alles Feinheit, es ist das ganze Wesen seiner Physiognomie erfasst in dem denkbar liebenswürdigsten und anziehendsten Augenblicke.“ Laut Grimm war dieses Porträt das einzige, mit dem Voltaire selbst „völlig zufrieden“ war.

Die Konzentration auf den Kopf entfaltet bei diesem Büstentypus die stärkste Wirkung. Houdon verbindet hier die auf antike Porträtbüsten zurückgehende Idealisierung des Dargestellten mit einer lebendigen, fast sprechenden Charakterisierung.

Diese Gesichtszüge finden sich mit marginalen Veränderungen auch in anderen Porträtformen wieder, etwa in der Büste „à l’antique“, bei der der Porträtierte mit einem antiken Umhang bekleidet ist. Houdon reagierte mit den unterschiedlichen Gewändern auf die Wünsche seiner Käufer.

Jean-Antoine Houdon, Voltaire ohne Perücke, 1778, Gips, bronziert, 78 x 20,8 x 20,4 cm
Jean-Antoine Houdon, Voltaire in Toga, 1778, Gips, bronziert, 74,7 x 49,8 x 32,5 cm